FM-Wahrnehmung - page 45

FM - Wahrnehmung
45
©
aon gmbh – academy of neuroscience
Die Aufgabe des dorsalen Pfades scheint hauptsächlich die Kodierung der visuellen Bewegung und die
Kontrolle von visuell gesteuerten Bewegungen zu sein. In einem seiner Areale, als V5 oder MT
bezeichnet, findet eine spezielle Analyse der Objektwahrnehmung statt. Neuronen des Areals MT besitzen
große rezeptive Felder, die selektiv auf die Bewegung eines Objektes in eine bestimmte Richtung
reagieren. Dessen Form scheint dabei keine Bedeutung zu haben. Ähnlich den Orientierungssäulen in V1
besitzt MT Säulen für Bewegungsrichtungen, die zusammen alle möglichen Bewegungsrichtungen für
jeden Punkt im Raum, also volle 360° abdecken. Weitere Areale im Scheitellappen, wie z.B. das Areal
MST, reagieren selektiv auf lineare Bewegungen, strahlenförmige Bewegungen, die von innen nach außen
oder umgekehrt ablaufen, oder kreisförmige Bewegungen im oder entgegen dem Uhrzeigersinn. Die
Bedeutung dieser Neuronen wird im Zusammenhang mit Navigation, der Kontrolle der
Augenbewegungen und der Bewegungswahrnehmung diskutiert.
Die bewusste Erkennung von Objekten erfolgt vorzugsweise im ventralen Pfad, dessen Eingänge
Eigenschaften aus den Parvo-Interblob- und den Blob-Arealen von V1 aufweisen. Über V2 erhält das
Areal V4 Afferenzen aus den genannten Arealen. Dessen Neuronen haben große rezeptive Felder und
sind orientierungs- und farbselektiv. Bei Defekten in diesem Areal treten Defizite in der Form- und
Farbwahrnehmung auf. Von V4 ziehen Afferenzen ventral zu einem als IT bezeichneten Areal, dessen
Neuronen für Farben und abstrakte Formen selektiv sind. Ein Teil der Neuronen regiert besonders stark
auf die Präsentation von Gesichtern, sie lassen sich aber auch durch andere Reize erregen.
Ob es tatsächlich einzelne Neuronen gibt, die ausschließlich auf Gesichter oder andere spezifische Reize
reagieren, ist aber weiterhin ungeklärt und umstritten. Fakt ist jedenfalls, dass die hierarchisch organisierte
visuelle Verarbeitung zu immer komplexeren Eigenschaften der rezeptiven Felder in der aufsteigenden
Sehbahn führt. Daneben spielt aber auch die Parallelverarbeitung eine wichtige Rolle, wie die Auspaltung
in den dorsalen und den ventralen Pfad zeigt. Zudem muss bedacht werden, dass die Zunahme der
Komplexität nicht nur mit der Verarbeitung der visuellen Information zusammenhängt, sondern auch
durch Assoziation mit Eingängen aus anderen Modalitäten.
Aus der parallel-hierarchischen Verarbeitung der visuellen Eingänge ergibt sich, dass ein visueller Stimulus
gleichzeitig mehrere visuelle Cortexareale aktiviert, in denen jeweils Teilaspekte des Reizes verarbeitet
werden. Dies lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass eine einzelnes Neuron oder eine kleine Gruppe
von Neuronen für die Kodierung spezifischer Objekte, z.B. das Gesicht der Großmutter, zuständig ist.
Vielmehr werden Objekte durch die Aktivität verteilter, z.T. weit verstreuter neuronaler Ensembles reprä-
sentiert. Allerdings gibt es kein Areal im Cortex, in dem alle Informationen zusammenlaufen und etwa in
der Funktion eines Homunkulus analysiert würden. Dadurch resultiert – auf der psychologischen Ebene –
das Bindungsproblem, denn wir nehmen Objekte, z.B. die Großmutter, nicht in Teile zerlegt, sondern
einheitlich wahr.
1...,35,36,37,38,39,40,41,42,43,44 46,47,48,49,50,51,52,53,54,55,...85
Powered by FlippingBook